Horváth, Rilke, Kästner – All Inclusive in der neuen Theaterwerkstatt
Diese Beziehungskiste hat es ganz schön in sich. Das Paar Kasimir und Karoline driftet auseinan-der, ein Happy-End wird es wohl nicht geben. Es ist eine anspruchsvolle Szene, die der Theater-regisseur und Schauspieler Mario Krichbaum in der neu gegründeten Theaterwerkstatt All Inklusive probt. Interessierte jeden Alters, mit und ohne Bühnenerfahrung, treffen sich seit Juli wöchentlich in der EVIM Reha- Werkstatt, um gemeinsam ein Stück zu erarbeiten.
Jede Probe beginnt mit Übungen zur Körper-wahrnehmung. Sich selbst zu spüren, den Raum in Anspruch zu nehmen, wie Krichbaum es be-schreibt, ist keine so leichte Aufgabe. Der Profi hat dabei jeden Einzelnen im Blick, gibt Hinweise und entwickelt Sprachbilder, die helfen, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Allmählich werden die Übungen dynamischer, verbinden Bewe-gung, Sprache und Emotion. Manch einer kommt da außer Puste, doch Krichbaum motiviert auf erfrischend lockere Weise. „Für mich ist dieses Angebot wie ein Traum“, freut sich Bagrat Jakobian, der bisher wie alle anderen Teil-nehmer noch nicht auf der Bühne stand. „Jeder findet hier seinen ganz speziellen Ausdruck, weil jeder von uns anders ist“, sagt der Mitarbeiter aus der Reha-Werkstatt.
Schritt für Schritt tasteten sich die 12 Teilnehmer an kleine Theaterszenen heran, beginnend mit der Darstellung von Zahlen in Körperbildern bis zu einem Stück von Loriot. In der heutigen Probe geht es um die Geschichte von Kasimir und
Karoline. Dafür hat Mario Krichbaum aus Textenvon Horváth, Rilke, Prévert und Kästner ein ei-genes Stück verfasst. Die Geschichte handelt von einem Beziehungskonflikt. Ganz schön anspruchsvoll? Die Mitwirkenden finden den Stoff gut, lachen und sagen: „Das ist doch wie im richtigen Leben!“
Jeder hat seinen Part, alle sind in Bewegung, interagieren, sprechen ihre Rolle und müssen zugleich das Ganze im Blick behalten. Kasimir, gespielt von Markus Berg, muss auf das Stich-wort an einer bestimmten Stelle im Raum sein. Zugleich bewegen sich die anderen in gegen-laüfiger Richtung im Kreis. Das erfordert volle Konzentration und einen wachen Geist, all das, was zu Beginn der Probe trainiert wurde. Behut-sam gibt Mario Krichbaum Hinweise, hilft mit Bewegung und Blicken, damit die Szene gelingt. Immer besser schafft es Markus Berg, „sich da-hin zu spielen“, wie Krichbaum es beschreibt. Jetzt noch der Blickkontakt zu Karoline, die ne-ben ihm steht: vorsichtig annähernd, fragend, hoffend im Ausdruck. Geduld ist gefragt. Der Schauspielprofi motiviert: „Es heißt ja nicht „können“, sondern „proben“, wofür sich die Gruppe hier trifft." Kathrin Appell meldet sich bei dieser Theaterszene zu Wort: Die Beziehung müsse wirkungsvoller rüberkommen und hat dazu eine Idee.
Es sind genau diese Situationen, von denen Mario Krichbaum später sagen wird, dass ihm dabei „das Herz aufgehe“. Der 46-Jährige, der unter anderem im Theaterlabor Darmstadt inklusive und hochwertige Theaterkunst auf die Bühne gebracht hat, betont das Besondere an dieser Theaterwerkstatt: „Hier haben die Teil-
nehmer ein großes Mitspracherecht.“ Das ermögliche einen intensiven Schauspiel-unterricht und eine intensive Auseinander-setzung mit dem Stück.
Die Zusammenarbeit mit ihm ist über Friedl Arelt zustande gekommen. Die engagierte, theaterbegeisterte Fachfrau für Bildung und Sozialraumorientierung in der Reha- Werkstatt wollte die Theaterarbeit als ein Angebot wieder aufleben lassen und war auf der Suche nach einem Kursleitenden. „Das war gar nicht so einfach, denn viele Theaterprofis konnten sich das Setting in einer inklusiven, offenen Werk-statt nicht vorstellen“, so Arelt, die selbst aktiv teilnimmt. Mit Mario Krichbaum konnte sie sich über ihre Idee des inklusiven Theaters sofort verständigen. „Auf der Bühne kann alles Platz und Ausdruck finden und jeder Mensch auf seine Weise mitspielen, mit allen Stärken und Schwächen“, sind nicht nur Krichbaum und Arelt überzeugt. Das bestätigt Kathrin Appell: „Herr Krichbaum geht auf meine Behinderung ein, schließt sie nicht aus.“ Sie fühle sich voll und ganz integriert. Außerdem könne hier jeder seine Vorschläge einbringen – zum Stück und zu den Requisiten.
Ziel ist natürlich eine Aufführung, am besten an einem besonderen Ort, auf einer Bühne. Das erhoffen sich alle, auch Herr Fischer, der über den Aufruf im Wiesbadener Kurier auf die Theaterwerkstatt aufmerksam geworden ist. Es mache ihm Spaß, in dieser lockeren Gruppe mitzumachen, sagt der Diplom-Pädagoge aus Biebrich. Zum Abschluss der Probe lobt Krichbaum: „Es wird richtig schön!“ und fügt hinzu: „Das hat Kraft, Bestand und Wert.